Liebe starke Konsumentinnen,
seit über 20 Jahren sammle ich Konsumprodukte. Ich gehe dazu weltweit in Supermärkte, dort wo die Menschen aus allen Gesellschaftsschichten einkaufen. Dadurch habe ich eine sehr große und internationale Konsumprodukte Sammlung. Diese Sammlung ist für mich wie eine Bibliothek. Ich kann darin lesen was uns Konsumbürgern gerade wichtig ist und entwickle daraus meine Arbeit.
In den vielen Jahren habe ich die unterschiedlichsten Themen gesammelt. Dabei habe ich unter anderem auch festgestellt, dass sich die Begriffe natürlich immer wieder verändern und auch neue hinzukommen.
Was erwarten wir uns vom Leben? Was beschäftigt und treibt uns als Konsumbürger um und an? Glück, Liebe, Freiheit und Wohlstand als Grundvoraussetzung? Hier in Deutschland und Europa leben wir erstmalig seit über 70 Jahren in Frieden und beispiellosen Wohlstand. Wir leben nahezu in paradiesischen Zuständen und wertschätzen dies leider viel zu wenig.
Was ist eigentlich ein Supermarkt? Was zwingt und verführt uns da hineinzugehen? Supermärkte, mit all den Konsumprodukten wollen auf den ersten Blick dass wir glücklich sind. Das Sortiment eines Supermarktes sichert zunächst unser Überleben, und das am Besten noch mit großem Entertainment Effekt: schön, bunt und perfekt inszeniert.
Existenz und Bewusstsein sind zwei Grundsätzliche Werkzeuge, die jedem Menschen und Konsumenten zur Verfügung stehen, jeder Zeit und in jeder Lebenslage. Wir manipulieren uns alle täglich selbst und wir werden auch manipuliert von unserer Umwelt und natürlich auch von den Konsumprodukten und deren unterschiedlichsten Inszenierungen.
Wir habe täglich die Wahl und können Unterscheiden was wir kaufen und was nicht. Und wenn wir uns darüber Bewusst sind was wir tun wenn wir einkaufen, sind wir Manipulationen nicht hilflos ausgeliefert. Wir können mit vollem Bewusstsein die schönen Inszenierungen genießen und jeden Moment neu entscheiden.
1994 ging ich an den Stränden von Los Angeles entlang um Muscheln zu sammeln. Was ich fand waren zerriebene Plastikobjekte. Ich folgte ihrem Ursprung und landete in den megagroßen Supermärkten der USA, die 24 h geöffnet hatten.
Hier hielt ich mich Monate lang auf und beobachtete die Konsumenten beim einkaufen. Hier entstanden meine ersten „Farb-Einkäufe“, ganz bewusst nicht nach dem Inhalt sondern nur nach dem Design und der Farbe Konsumprodukte auszuwählen und einzukaufen.
Heute orientiere ich mich hauptsächlich an den Themen auf der Verpackung. Mein Anliegen ist ein sehr existentielles! Ich könnte in unserer Gesellschaft nicht überleben ohne mich mit dem Thema Konsum auseinanderzusetzten. Mit dem Konsum und unserem materialistischen Denken regieren und unterjochen wir unsere Welt sowie uns selbst. Mit meinen Arbeiten erinnere ich an unser Denken und unser Bewusstsein und daran welche Möglichkeiten und Chancen wir jeden Tag haben unseren Geist zu nutzen.
Die Marketing Inszenierungen richten sich hauptsächlich an uns Frauen, wir haben auch im alltäglichen Konsum die Hosen an, das ist eine große rationale und irrationale Herrausforderung und Verantwortung. Mit der Idee der „starken Konsumentin“ möchte ich uns Frauen an unsere Macht und unsere geschichtlichen Vorkämpferinnen, die Suffragetten erinnern, wie man Haltung ausdrücken kann.
Die Kunst ist eine der wenigen Freiräume unserer Gesellschaft. Kant nennt Ihn auch den „interessenlosen Raum“ – ein Ort offen für Reflexionen und ohne Vorurteile. Ich möchte dass wir mit dem komplexen und behafteten Thema Konsum erstmal ebenso wertefrei umgehen.
Stephanie Senge, Künstlerstatement, 2020
Bekenntnismedien in Wohlstandszeiten
Stephanie Senges Konsumbibliothek und ihre Produkte
von Wolfgang Ullrich
Noch vor einigen Jahrzehnten wäre der Idee einer Konsumbibliothek wohl mit viel Unverständnis begegnet worden. Wieso hätte man darauf kommen sollen, Konsumprodukte mit Büchern zu vergleichen? Kann es überhaupt Unterschiedlicheres geben als das hochkulturelle Medium ‚Buch’ und die massenkulturellen, von vornherein nur an Profit ausgerichteten Welten des Konsums?
Die Wohlstandskultur hat jedoch nach und nach dazu geführt, dass mittlerweile viele Konsumprodukte eine hohe semantische Dichte aufweisen und daher tatsächlich ähnlich wie Texte Stoff zur Interpretation und Diskussion bieten. An die Seite von Schriftgelehrten könnten also Produktgelehrte und Produktexperten treten, die über die Botschaften der Produkte, über ihre Narrative und Dramaturgien debattieren. Sie würden anerkennen, dass viele heute vornehmlich durch Produkte sozialisiert – in ihrem Wahrnehmen und Verhalten geprägt – werden. Eine frühere Form von Konsumkritik, die maßgeblich durch Wolfgang Fritz Haugs Buch „Kritik der Warenästhetik“ (1971) formuliert wurde, der Produkte primär als Waren ansieht und ihr Design daher auf ihren Tauschwert bezieht, ist damit zwar nicht überholt, aber zu einseitig. Sie muss durch eine Konsumkritik als Medienkritik ergänzt werden.
Stephanie Senge, die sich in ihrem Werk schon seit rund zwei Jahrzehnten mit verschiedenen Aspekten der Konsumkultur auseinandersetzt und Produkte in vielen Arbeiten als Ideengeber genutzt hat, bietet mit ihrem Konzept einer Konsumbibliothek die Grundlage für eine solche Medienkritik. Diese Bibliothek ist selbst jedoch genauso wenig kritisch wie eine herkömmliche Bibliothek, doch durch das, was in ihr gesammelt und kategorisiert wird, bereitet sie die Grundlage für diverse – und damit auch kritische – Analysen. Sie lädt dazu ein, Produkte in immer wieder anderer Hinsicht miteinander zu vergleichen, einzeln zu betrachten sowie als Objekte ernst zu nehmen. Eine medienkritische, aber auch gesellschaftspolitische Betrachtung der Produkte legt Senge insofern nahe, als sie sich in ihrer Auswahl darauf konzentriert, wie Themen, Weltanschauungen, Werte von den Herstellern in Szene gesetzt werden. Sie interessieren Produkte gerade dann, wenn sie mehr als die Erfüllung von Gebrauchswerten und materiellen Bedürfnissen versprechen.
Besonders aufschlussreich sind etwa Abteilungen mit Produkten, in denen auf unterschiedliche Weise ‚Zeit‘ verhandelt wird. So kann ein Produkt suggerieren, mit ihm sei man ganz in der Gegenwart („Life is now“, „Die beste Zeit ist jetzt“), während ein anderes verspricht, etwas lasse sich damit besonders schnell, also zeitsparend („Im Nu“) erledigen. Dahinter stehen jeweils Erwartungen von intensiv erlebter, sinnvoll genutzter Zeit, und letztlich geht es sogar um Ideen geglückten Lebens, zu dem beizutragen die Produkte verheißen – kaum anders als ein Ratgeber oder ein philosophischer Traktat in einer Bibliothek. Aber man kann die in den Produkten propagierten Erfahrungsweisen von Zeit auch daraufhin untersuchen, welche Lebensstile sie begünstigen oder welche Defizite damit kompensiert werden sollen.
In einer anderen Abteilung stehen Produkte, die Frauen Mut machen („Gibt Frauen Power“) und sie zu Aktivismus und Engagement auffordern. Wieder andere Produkte hingegen wollen das Bewusstsein für ein „Wir“, für Gemeinsinn und Solidarität stärken. Senge hat aber auch zahlreiche Produkte in die Bibliothek aufgenommen, deren Titel schon Appelle sind und die wie Motivationstrainer auftreten („Sei frei, verrückt und glücklich!“, „believe in yourself“). Und selbst so hoch gegriffene Begriffe wie ‚Paradies’, ‚Glück’ und ‚Seele’ sind im zeitgenössischen Marketing ganz gängig – und werden entsprechend in eigenen Rubriken der Konsumbibliothek präsentiert.
Im Unterschied zu einer herkömmlichen Bibliothek finden sich in Senges Konsumbibliothek aber keine Autorennamen. Vielmehr sind die Entwickler alltäglicher Produkte meist namenlos. Anders als bei exklusiven Designerstücken handelt es sich bei ihnen auch fast nie um individuelle Leistungen, sondern sie verdanken sich dem Zusammenspiel verschiedener Abteilungen und Akteure. Stephanie Senges Konsumbibliothek lässt sich daher mit den Fotoserien von Bernd und Hilla Becher vergleichen. Deren ab den 1960er Jahren entstandenen Fotos von Fördertürmen, Hochöfen oder Wassertürmen würdigten eine namenlose Architektur, die sonst meist unbeachtet blieb, obwohl oder gerade weil sie den Alltag vieler Menschen prägte. Wie Bechers also Bauwerkstypen sammelten und dokumentierten, indem sie sie systematisch fotografierten, sammelt und dokumentiert Senge Produkttypen, die besonders viel über die Prioritäten, Sehnsüchte und Wünsche der jeweiligen Gesellschaft verraten, in der sie produziert und verkauft werden.
Allerdings ist es für Hersteller nicht zuletzt deshalb sehr verlockend, immer noch mehr Werte, noch hehrere Ideale in Szene zu setzen, weil sie ihre Produkte so auch teurer verkaufen können. Eine ideelle Aufladung verlangt sogar hohe Preise, damit die Botschaften als überzeugend wahrgenommen werden. Umgekehrt kann man mit dem Kauf eines Produkts dann aber auch ein Wertebekenntnis ablegen, das umso glaubwürdiger ausfällt, je mehr Geld man ausgibt. Indem man ein finanzielles Opfer bringt, bekundet man die Ernsthaftigkeit, mit der man sich für bestimmte Ideale und Werte einsetzt.
Die Werte- und Bekenntnisorientierung der Konsumkultur führt jedoch zu einer Paradoxie. So erscheint auf einmal etwa als ökologisch besonders sensibel und der Idee der Nachhaltigkeit mehr als andere verpflichtet, wer viele – teure – Produkte konsumiert, in denen der Wunsch nach einer ökologischeren und nachhaltigeren Welt zum Ausdruck kommt. Doch auch diese Produkte verbrauchen Ressourcen, sind also weniger ökologisch, als es ein Konsumverzicht wäre. Dieser jedoch lässt sich nicht so plakativ und eindrucksvoll demonstrieren, denn wo es an finanziellem Einsatz fehlt, wird schnell mangelndes Engagement vermutet.
Die Aufladung von Produkten mit Werten und Idealen, ja die Verwandlung des Konsums zum Leitmedium einer neuen Bekenntniskultur dürfte den Ressourcenverbrauch daher insgesamt erheblich steigern. So besteht immer wieder eine Legitimation, vielleicht sogar ein gewisser Druck, etwas zu kaufen, obwohl das, was man bisher nutzt, noch gar nicht verbraucht oder abgenützt ist, nur weil das neue Produkt einen anderen Wert verkörpert, zu dem man sich gerne auch noch bekennen würde.
Dass viele Konsumenten sich angewöhnt haben, in den Sozialen Medien Fotos von Produkten zu verbreiten, mit denen sie ihren eigenen – materiellen oder immateriellen – Status unter Beweis stellen und Bekenntnisse zu einem Lifestyle und einer ideellen Haltung ablegen können, sorgt nochmals für zusätzliche Konsumanreize. Und da andererseits Hersteller zunehmend darauf setzen, dass solche Fotos herkömmliche Produktwerbung ablösen, werden demonstratives Design und die Inszenierung von Werten noch weiter begünstigt. Denn je einfacher und eindeutiger sich mit solchen Fotos ein Wertbekenntnis ablegen lässt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Produkt eine Karriere bei Instagram, Pinterest oder TikTok macht und dadurch noch mehr Markterfolg hat.
Schon jetzt ließen sich die Bestände der Konsumbibliothek dazu verwenden, den Einfluss der Sozialen Medien auf das Produktdesign nachzuweisen. Die Arbeit an und mit der Konsumbibliothek kann aber vor allem immer wieder vor Augen führen, dass Konsumprodukte verglichen mit Büchern und Texten, die lange Zeit das wohl wichtigste Medium für die Diskussion von Werten und Idealen waren, viel aufwendigere und wohlstandsabhängigere Medien sind. Das aber macht sie auch anfälliger für Krisen, und es ist nicht ausgeschlossen, dass Stephanie Senges Konsumbibliothek schon bald als Dokument einer historischen Epoche betrachtet werden wird. Man wird sich dann wundern, was alles in Produkten thematisiert wurde und mit wie viel Aufwand man einzelne Überzeugungen in Design überführte. Und schließlich wird die Konsumbibliothek vielleicht sogar zur Kunst- und Wunderkammer des frühen 21. Jahrhunderts.
Leipzig, 2020